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Rosenheim, Unterkirche Christkönig
Glaswand mit Schriftkonzept, Psalm 104
1997


Die Unterkirche zur Pfarrkirche Christkönig hat ihren Zugang direkt von der Straße her. Treppen führen nach unten, man öffnet die Tür in Erwartung des Gängigen: ein Vorraum, dann noch eine Tür, erst dann der eigentliche Kirchenraum. Hier ist es aber anders. Keine weitere Tür zwischen Straßentor und sakralem Raum sondern eine Wand aus Glas. Sie ist fünfteilig, gefasst von schlanken dunklen Metallstäben. Die Glasscheiben sind hochrechteckig, aus Industrieglas und beschriftet, meist in Dreierzeilen, von oben nach unten, jede Glasbahn für sich, eine Anordnung, die an die Strenge von Kanontabellen mittelalterlicher Evangeliare erinnert. Die Bahnen sind sandgestrahlt, also matt in der Oberflächenqualität, die Schriftzüge aber sind transparent und glatt über Schablonen aus der opaken Fläche ausgespart. Keine Farben. Es ist die Handschrift des Künstlers, seine Schreibschrift. Das Industrieglas, kühl und neutral in der Ausstrahlung, ist Folie für Spuren von Individualität, vorgetragen durch den Schreibduktus. Es ist keine geschulte oder stilisierte Kalligrafie, nicht ornamentverdächtig, einfach alltäglicher, aber auch flüssig, elegant sogar, in jedem Falle ästhetisch strukturierend, präzise und gut lesbar. Die Schrift schreibt den Psalm 104,1-35, den leidenschaftlichsten aller Psalmen. Da er so gut lesbar ist, weiß jeder, wo er hier steht, man identifiziert den Ort: “Lobe den Herrn, meine Seele! Herr, mein Gott, wie groß bist du!” Die matten Glasbahnen, die klare Schrift, der hymnische Test-Stil, Symbol und Struktur suchen sich. Etwas Entscheidendes kommt hinzu: über alle fünf Glasflächen sind Punkte ausgeschliffen, sie wirken wie eine globale, ideelle Struktur, eine geheimnisvolle Weltenlandschaft. Die Glaswand steht zwischen Außen und dem Innen, sie verkörpert ein Zwischenreich. Das heißt, sie verstellt den direkten und voreiligen Blick von außen nach innen und von innen nach außen und hofft, dass beide Richtungen an ihr innehalten und die eilige Passage drosseln. Der innere Weg vom städtischen Raum zum Raum der Stille in der Unterkirche Christkönig in Rosenheim wird vermittelt über die gläserne Wand von Holger Bollinger. Die Worte des Psalmes schweben im Licht, religiöse und ästhetische Offenbarung kommen zur Deckung. “Du hüllst dich in Licht wie in ein Kleid, du spannst den Himmel aus wie ein Zelt.”

Von innen gesehen, von der Rückseite “liest” sich die Schrift ganz anders, als ästhetische Figuration, jetzt gelöst von Inhalt und Botschaft. Sie entfaltet eine eigenen Qualität, die Schönheit der Abstraktion. Deshalb mag mancher diese Seite der Glaswand vorziehen. Die diaphane Lichtwand ist offen für Gott und die Welt. Sie sammelt und transzendiert das Licht von beiden Seiten: das weltliche Licht, das der Betrachter von außen mitbringt, indem er die Kirchentür öffnet und eintritt, und das weiche goldene Kunstlicht des Kirchenraumes, das der Besucher in die Welt mitnimmt.


Dr. Christine Goetz
Kunsthistorikerin
Erzbistum Berlin